WAS IST PASSIERT?
Gestern ist im Spiegel ein Interview mit dem Bundeskanzler erschienen. Eine Aussage daraus hat es sogar auf das SPIEGEL-Titelbild geschafft:
“Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“
Wir wollen die von Olaf Scholz getätigten Aussagen im Gesamtkontext betrachten. Im Interview sagt er nämlich noch mehr: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“
WARUM WIR UNS DENNOCH DARAN STÖREN:
Wir begrüßen es zunächst, dass ausdrücklich zwischen Asylbewerber:innen und ausländischen Arbeitskräften unterschieden wird. Das ist ein wichtige Differenzierung, die viele Rechtspopulist:innen („Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?“) bis heute nicht anerkennen.
Auch die Tatsache, dass wir – mit unseren aktuellen Kapazitäten – nicht dauerhaft zehntausende Menschen pro Monat aufnehmen können, ist (leider) die Realität und wir wollen an dieser Stelle auch nicht darauf eingehen, dass die Bundesrepublik als wirtschaftsstarker Sozialstaat durchaus in der Lage wäre, Kapazitäten mittelfristig zu erhöhen.
Vielmehr wollen wir unseren Fokus darauf legen, dass in dem Interview – aus unserer Sicht – unzutreffende Aussagen getätigt werden. Diese „talking points“ begegnen uns in der aktuellen Debatte immer wieder. Deshalb wollen wir sie einmal aufgreifen.
1. EINSATZ STAATLICHER RESSOURCEN FÜR GEFLÜCHTETE MENSCHEN
“Und wir wollen die Anreize dafür senken, sich hier irregulär bei uns aufzuhalten. Wenn die Länder jetzt sagen, sie wollen Sachleistungen statt Geld anbieten, unterstützen wir das.“
Natürlich sind staatliche Ressourcen für die Versorgung von geflüchteten Menschen (!) begrenzt; daher gehören zu einem funktionierenden Asylsystem auch die Abschiebung von Menschen, die weder Asylstatus, Duldung noch Abschiebehindernis haben. Wer sich in der Debatte jedoch auf „Mehr Abschiebungen und bitte schnell!“ fokussiert, hängt sich aus mehreren Gründen am falschen Punkt auf.
Wie groß war die Empörung, als Friedrich Merz über die Zahnbehandlung von Ausreisepflichtigen schwadronierte? Die Aussage war nicht nur populistisch, sondern in der Sache schlicht nicht zutreffend. Ähnlich unzutreffend ist die Erzählung von üppigen Sozialleistungen, welche die geflüchteten Menschen scharenweise nach Deutschland locken.
Die meisten Asylbewerber:innen bekommen zwischen 180-300 € im Monat ausbezahlt. Das ist nicht viel Geld, um den eigenen Lebensbedarf zu decken. Da bleibt wenig übrig. Es gibt aber auch empirisch keine Anhaltspunkte dafür, dass Menschen für Asylleistungen eine oft lebensgefährliche Flucht antreten. (Der folgende Artikel setzt sich ausführlich mit der Thematik auseinander: https://www.sueddeutsche.de/politik/bezahlkarten-asylleistungen-geld-fluechtlinge-1.6262760).
2. DIE ZAHL GEFLÜCHTETER MENSCHEN, DIE AUSREISEN MÜSSEN
„Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“
Über wieviele Menschen reden wir hier eigentlich? Es ist recht simpel: Nur Menschen ohne Asylgrund oder sonstigem Aufenthaltstitel werden abgeschoben. Selbst bei Menschen ohne Asylgrund kommt es jedoch häufig zu einer sog. „Duldung“, etwa weil eine Rückkehr ins Herkunftsland aufgrund der Sicherheitslage nicht zumutbar ist. Im Ergebnis dürfen aus rechtlichen Gründen nur circa 5 % der geflüchteten Menschen abgeschoben werden. („Aber kann man das rechtliche Gedöns nicht einfach ändern?” Richtig, Deutschland könnte aus der Genfer Flüchtlingskonvention aussteigen. Wer diese Frage für sich bejaht, darf die nächste Frage beantworten: Wollen wir geflüchtete Menschen wirklich in die Arme der Taliban oder in die Foltergefängnisse Assads geben?)
Aber zurück zu den 5 % an geflüchteten Menschen: Wer sich auf diese kleine Minderheit fokussiert, macht Stimmung auf Rücken der großen Mehrheit an geflüchteten Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Terror geflüchtet sind.
WIR STELLEN ALSO FEST:
1. Es kommen aktuell vermehrt Menschen nach Deutschland, die Schutz vor Krieg, Terror und – ja – auch Armut suchen. Diese Menschen lassen sich hier weder das Gebiss machen noch schicken sie große Mengen an Geld in ihre Heimatländer. Beides sind gefährliche Narrative, die hierzulande Ressentiments schüren. („Wenn schon der Kanzler das sagt?!“)
2. Eine ganz große Mehrheit der ankommenden Menschen werden wir nicht zeitnah in ihre Heimatländer abschieben. Ob wir dies können oder gar wollen ist eine ganz andere Frage! Eine ehrliche Migrationsdebatte ist vielschichtig, sie führt gegebenenfalls zu unbequemen Abkommen mit Drittstaaten. Wenn es eine Universallösung gäbe, hätte der SPIEGEL das Interview wohl nicht gedruckt. Ob Anreize für eine freiwillige Rückkehr in die Heimat; mehr Geld für schnellere Asylverfahren oder Stacheldraht und „Pushbacks“ die Lösung sind, müssen wir in einer gesellschaftlichen Debatte klären. Wir haben hier eine klare Meinung; vielleicht ist sie in den vorherigen Zeilen durchgeklungen. Ein Punkt ist uns aber besonders wichtig: In der gesellschaftlichen Debatte müssen wir streng zwischen Fakten und populistischer Stimmungsmache differenzieren.